Mozart trifft Say
Fazıl Say: Chamber Symphony op. 62
Die 20-minütige Chamber Symphony op. 62, die für das Orpheus Chamber Orchestra geschrieben und 2015 in der New Yorker Carnegie Hall uraufgeführt wurde, gehört zu den meistgespielten Werken von Fazıl Say. Was natürlich an ihrer praktischen Werkgestalt, aber auch an ihrem faszinierenden Inhalt und der vielgestaltigen Aussage liegt. Zunächst mutet sie mit ihrer dreisätzigen Form und den herkömmlichen Satzbezeichnungen – I Introduction – II Nocturne – III Finale – gänzlich traditionell an. Doch das Hören belehrt schnell eines Besseren. Denn die Chamber Symphony ist vollständig von türkischer Musik inspiriert, wirkungsvoll, souverän und lebendig.
»Diese Komposition beschäftigt sich mit den Komplexitäten der modernen Türkei sowie einer gewissen Selbstreflexion«, sagt Fazıl Say. »Diese versuche ich durch die rhythmischen und metrischen Eigenschaften der Komposition zu vermitteln.« Der vibrante erste Satz hat einen 7/8-Takt (»devr-i hindi«), der in der traditionellen türkischen Musik weit verbreitet ist. Der Mittelteil ist viel langsamer, inspiriert von klassischer Palastmusik in der Tonart »Hecaz-Makam«, und deutet eine gewisse Nostalgie für das »alte Istanbul« an. Der zweite Satz ist ruhig und still: »Hier wollte ich besonders die Notwendigkeit von Romantik in unserer Zeit unterstreichen«, sagt Say.
Der letzte Satz ist ein sehr schneller Tanz, ebenfalls im archaischen 7/8-Rhythmus. In Istanbuls altem Romaviertel Sulukule gab es einst Orte des Tanzes und der Unterhaltung – und dieser letzte Satz enthält alle energiegeladenen, sprudelnden Elemente der Musik türkischer Roma und soll im Balkan-Stil gespielt werden. Sulukule gibt es freilich nicht mehr: Durch die Zerstörung dieser Kultur als Folge des kompletten Abrisses jenes Romaviertels (2007 bis 2009) ist hier ein weiteres Opfer der Gentrifizierung Istanbuls zu beklagen, von dem kaum gesprochen wurde. Fazıl Say möchte ganz bewusst daran erinnern. Charakteristisch für Sulukule waren die berühmten Roma-Musikstile Çiftetelli und Karşılama. Die wichtigsten Musikinstrumente waren Geige, »çifte nağara« (kleines Bechertrommelpaar) und die Rahmentrommel »def«. Die Tänzerinnen spielten Fingerzimbeln (zil). Ende des 19. Jahrhunderts wurde der ältere Tanzstil »raks« durch Einflüsse des ägyptischen Bauchtanzes ergänzt. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich daraus ein »oryantal« genannter Stilmix, der auch von professionellen wandernden Tanztruppen aufgeführt wurde.
Arabische Melismen mit ihren vertrackten variablen Metren und stark vorwärtsdrängende Rhythmen prägen die Ecksätze der Chamber Symphony, der ruhige Mittelteil erzählt von der Schwüle einer südlichen Nacht im eigentümlichen, folkloristisch inspirierten Neoklassizimus, der doch etwas sehr Heutiges ausstrahlt. Fazıl Say schreibt hier eine äußerst sinnliche Musik voll suggestiver Lautmalerei. Kraftvoll, saftig, lebensbejahend ist der Sound, den Say besonders gut beherrscht und der beim Hörer sofort die eigene Fantasie in Gang setzt. Im Flageolett der Streicher fliegt einmal sogar ein zwitschernder Vogelschwarm durchs Klangbild.
Manuel Brug
Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert A-Dur KV 414
Als Johann Christian Bach am 1. Januar 1782 starb, trauerte die musikalische Welt. Auch für Mozart war der jüngste Bach-Sohn ein Vorbild. Damals arbeitete er an seinen drei Klavierkonzerten KV 413 bis 415. Als eine Art Gedenkmusik legte er den langsamen Satz des mittleren Konzerts an. Er zitiert darin ein Thema aus Bachs Ouvertüre »La calamità de’ cuori«. Mittlerweile galt Mozart als einer der ersten Klavierspieler Europas und legte mit seinen neuen Konzerten brillante Werke für »Kenner« und »Liebhaber« vor – die er gleichermaßen zufriedenstellen wollte. Ein kluger Schachzug, denn wer die Massen mit anspruchsvoller Musik köderte, hatte schon damals gute Karten. Ihm waren die Liebe der Menge ebenso sicher wie das Lob der Kritiker. Alle drei Klavierkonzerte liegen nicht nur »angenehm in die ohren« (Mozart), sondern waren auch variabel einsetzbar. Die wenigen Bläserstimmen konnten bei Bedarf weggelassen werden, die Werke mit Streichorchester oder sogar Streichquartett erklingen. Das früheste Werk dieser für eigene Auftritte im Winter 1782/83 komponierten Trias ist das heute gespielte Konzert A-Dur KV 414. Es gefällt durch seinen grazil-charmanten Charakter. Solche Klavierkonzerte waren Mozarts pianistischen Fähigkeiten minutiös angepasst. Komponisten dieser Zeit betrachteten den Solopart als geistiges Eigentum und fixierten ihn erst spät. Oft traute man dem Berufsstand der Kopisten nicht über den Weg, die auf kriminellem Wege verbotene Abschriften erstellten und verkauften. Auch Mozart empfahl stets, seine Konzerte »im Hause abschreiben zu lassen, denn es ist den kopisten in Salzburg so wenig zu trauen als den in Wienn.« Die Urheberrechte waren nur geschützt, wenn Mozart den Solopart aus dem Kopf spielte und frei abwandelte. Natürlich wurden dabei die Kadenzen ganz frei improvisiert. Nach kurzer Zeit war der Neuigkeitswert passé, und die Werke wurden gedruckt. Die drei Klavierkonzerte KV 413 bis 415 erschienen 1785 als Mozarts Opus 4 im Wiener Verlagshaus Artaria.
Matthias Corvin
Fazıl Say: Klavierkonzert Nr. 2 op. 4 »Silk Road«
Das Klavierkonzert Nr. 2 op. 4 »Silk Road« ist, wie die Opuszahl schon sagt, ein sehr frühes Werk Fazıl Says, entstanden 1994, uraufgeführt 1996 mit dem Metamorphosis Chamber Orchestra in Boston. Es behandelt die faszinierende Geschichte der Seidenstraße. Darunter versteht man ein altes Netz von Karawanenstraßen, dessen Hauptroute den Mittelmeerraum auf dem Landweg über Zentralasien mit Ostasien verband. Seine größte Bedeutung erreichte das Handels- und Wegenetz zwischen 115 v. Chr. und dem 13. Jahrhundert n. Chr. Nebenrouten schlossen auch südlichere Regionen wie etwa Indien mit ein. Auf der antiken Seidenstraße wurde in Richtung Westen hauptsächlich Seide, gen Osten vor allem Wolle, Gold und Silber gehandelt. Nicht nur Kaufleute, Gelehrte und Armeen nutzten ihr Netz, sondern auch Ideen, Religionen und ganze Kulturkreise vermischten sich und wanderten auf den Routen von Ost nach West und umgekehrt. Eine 6400 Kilometer lange Route begann in Xi’an und folgte dem Verlauf der Chinesischen Mauer in Richtung Nordwesten, passierte die Taklamakan-Wüste, überwand das Pamirgebirge und führte über Afghanistan in die Levante. Von dort wurden die Handelsgüter dann über das Mittelmeer verschifft.
Der 24-jährige, damals im Berlin lebende Fazıl Say war mit diesem Thema fast prophetisch früh dran, erst vier Jahre später startete der ungleich berühmtere Yo-Yo Ma sein bis heute andauerndes, viel größeres »Silk Road Project« mit eigenem Ensemble. Say aber durchmaß das Thema ein erstes Mal in Form eines nur 15 Minuten brauchenden, gleichwohl viersätzigen Klavierkonzerts.
Say investierte fünf Monate, um alle 14.000 Aufnahmen von morgenländischer Musik im Völkerkundemuseum Berlin zu hören. Daraus entwickelte er eine abstrakte Behandlung der Volksmusik. Durch ihr Variantenreichtum soll die Grenzenlosigkeit dieses Weges und seiner Karawanen-Abenteuer klanglich-atmosphärisch konkret werden. Die folkloristischen Stile von vier Ländern sind in diesem Werk mit zeitgenössischer Sensibilität behandelt.
Zuerst besuchen wir in »Weiße Taube, schwarze Wolken« Tibet, in »Hindu-Tänze« Indien, in »Massaker« Mesopotamien. Im vierten und letzten Satz, »Der Gesang der Mutter Erde«, deuten die Klänge eines bekannten türkischen Volksliedes darauf hin, dass wir in Anatolien (der heutigen Türkei), der Heimat des Komponisten, angekommen sind.
Das Werk hebt an mit gedämpften Schlägen auf den Gong, die den Beginn der Reise ankündigen, begleitet von einem leisen Summen des Kontrabasses. Die Streicher schließen sich den sanften, aber anhaltenden Schwingungen des Klaviers in einem rasenden Schauer an. Irgendwann wird das Klavier ebenso sehr zu einem melodischen wie zu einem perkussiven Instrument, selbst der Pianist stampft mit seinen Füßen auf. Auch die Streicher klopfen auf ihre Instrumente, der Pianist greift ins Klavier, manchmal um die Saiten zu zupfen und so den Klang eines Cembalos zu erzeugen, manchmal um den Ton einer tiefen Note zu dämpfen. Drei Schläge auf das Tam-Tam, einen chinesischen Gong, verbinden die Sätzen miteinander.
1994 war es seltener, Instrumente zu verwenden, die nicht zum traditionellen westlichen klassischen Katalog gehörten – daher ist das Stück eher eine imitierende als eine wörtliche Nacherzählung der Originalaufnahmen, die Say gehört hatte. Heute würde er mehr traditionell asiatische Instrumente verwenden, hat er einmal gesagt. Trotz dieser etwas abstrakten Behandlung der Volksmusikthemen, die »Silk Road« inspirierten, versetzt Say seine Zuhörer dennoch direkt in die farbenfrohe, beeindruckende Welt, die einst entlang der sagenumwobenen alten Handelsroute existierte, nach der das Stück benannt ist.
Manuel Brug
Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonie Nr. 29 A-Dur KV 201
Komponierte der junge Mozart in seinen Salzburger Jahren noch lange liturgische Werke, in denen er in erster Linie die Erwartungen seiner Auftraggeber erfüllen und seine Meisterschaft in den anerkannten Stilrichtungen dokumentieren wollte, emanzipierte er sich in den Genres, die in der klassischen Sonatenform wurzeln, immer mehr von den traditionellen Modellen. Dokumente dieser Entwicklung sind unter anderem die in Salzburg in den Jahren 1773 und 1774 entstandenen neun Sinfonien (KV 162, KV 181-184, KV 199-202), die nach Entstehungszeit, Stil und Überlieferung eine in sich zusammenhängende Werkgruppe bilden. Denn obgleich die Stücke, über deren konkreten Entstehungsanlass nichts überliefert ist, formal keine bedeutenden Neuerungen aufweisen, unterscheiden sie sich hinsichtlich kontrapunktischer Dichte und des musikalischen Ausdrucksgehalts deutlich von den früheren sinfonischen Werken. Dass diese Betonung des Subjektiven bei Mozarts Vater Leopold auf wenig Begeisterung stieß, ist aus seiner Sicht durchaus nachvollziehbar – bedeutete jeder Bruch mit den musikalischen Konventionen doch auch ein gewisses Risiko. Wohl aus diesem Grund hielt er viele Werke seines Sohnes zunächst zurück: »Was Dir keine Ehre macht, ist besser, wenn’s nicht bekannt wird«, schrieb er. »Deswegen habe ich von Deinen Symphonien nichts hergegeben, weil ich voraus wusste, dass Du mit reiferen Jahren, wo die Einsicht wächst, froh sein wirst, dass sie niemand hat, wenn Du gleich damals, als Du sie schriebst, damit zufrieden warest. Man wird immer heikler.« Dass der junge Mozart anderer Meinung war, belegt die Tatsache, dass er einige der von Leopold »kassierten« Sinfonien in den späten Wiener Jahren wieder aufführte – auch die A-Dur-Sinfonie KV 201, mit der Mozart hinsichtlich formaler Symmetrie, Themenverarbeitung, harmonischer Progression, zyklischer Einbindung und motivisch-thematischer Arbeit einen gewichtigen Beitrag zur Entwicklung des klassischen Stils geleistet hat. Nicht umsonst sehen viele Musikhistoriker gerade dieses Werk als ersten, echten Beweis von Mozarts Genialität an.
Im kontrapunktisch verdichteten Kopfsatz (Allegro moderato) werden die sanften Vorschlagmotive und die absteigende Oktave der Eröffnung durch ihre imitatorische Wiederholung im Forte der tiefen Instrumente intensiviert. Während die Durchführung von polyphon versetzten Trillerketten und Skalenläufen eingeleitet wird, ist der Seitensatz von einem lyrischen Tonfall geprägt, den auch das folgende Andante übernimmt. Ihr ungewöhnliches und individuelles Timbre erhält die Musik hier durch den verhaltenen Klang der gedämpften Streicher, wobei Mozart seine Hörerinnen und Hörer am Ende mit einem wohlkalkulierten Effekt überrascht: Nachdem die letzten sechs Takte der Coda von den Bläserstimmen im Forte ausgeführt wurden, erklingen die Streicher zwei Takte später plötzlich ohne Dämpfer in einer neuen, bisher nicht verwendeten Farbe. Das folgende Menuett, das sich von den höfisch-zeremoniellen Tänzen weit entfernt hat, wird durch den punktierten Staccato-Rhythmus seines Hauptthemas geprägt, während das Trio einen melodischen Kontrast zu den rhythmisch markanten Hauptteilen bildet. Im Finale, in dem vom Orchester höchste Brillanz und Virtuosität verlangt werden, sorgen »melodische Raketen« für besondere Überraschungen, wobei die plötzlich emporschnellende Figur in der Coda schließlich einen fulminanten Schlusseffekt garantiert.
Harald Hodeige