»Ich schreibe Musik für Menschen«
Mit seinem außergewöhnlichen pianistischen Vermögen berührt Fazıl Say, SHMF-Porträtkünstler 2025, Menschen aus verschiedenen Kulturen und Ländern ganz unmittelbar. Seine Kompositionen werden von den weltweit führenden Orchestern und Solisten der unterschiedlichsten Genres aufgeführt. Wir besuchten Fazıl Say in seiner Istanbuler Wohnung und sprachen über Musik zwischen den Welten.
Lieber Fazıl Say, Sie sind in Ankara geboren, haben an den Musikhochschulen in Düsseldorf und Berlin studiert und lebten über zehn Jahre in New York. Seit einiger Zeit wohnen Sie in Istanbul. Was bedeutet Ihnen diese Stadt?
Istanbul ist eine Musikstadt. Musik ist Kultur – und Istanbul hat viele Kulturen: christliche oder islamische, armenische oder jüdische, aus der Antike bis zur Gegenwart – seit Jahrtausenden beflügelt Istanbul als Seidenstraßen-Stadt den Tourismus aus aller Welt und dadurch den Dialog der Kulturen. Diese Vielfalt an Instrumenten, an Tänzen, Rhythmen, Liedern oder Religionen, die sich gerade in der Istanbuler Musik widerspiegelt, inspiriert mich sehr. Darüber hinaus hat Istanbul eine naturgegebene Klangkulisse voller Schönheit: Da sind die Möwen, die über dem Bosporus fliegen und permanent miteinander sprechen oder die Sirenen der Schiffe im Hafen, der Ruf der Muezzins, vor allem aber der Gesang der Millionen Katzen (es gibt fast so viele wie Einwohner!), den ich sehr liebe. Eine blaue Moschee oder eine Hagia Sofa inspiriert einen – ob man jetzt Dichter, Maler oder Komponist ist. Es ist meine Heimat, und es ist mir wichtig, ein kultureller Botschafter dieser Heimat zu sein.
Sie sind beim SHMF einerseits als Interpret herausragender Werke der Klavierliteratur zu erleben. Andererseits werden viele Ihrer eigenen Kompositionen aufgeführt. Sehen Sie sich vornehmlich als Pianist oder als Komponist?
Das kann ich nicht trennen. Ich komponiere seit ich fünf Jahre alt bin, kurz zuvor hatte ich auch mit dem Klavierspielen begonnen. Mit Musik drücke ich mich aus – Musiker zu sein bedeutet für mich, in sich zu gehen, Empfndungen zu entdecken und eigene Ausdrücke dafür zu kreieren. Ich bin sehr glücklich, wenn mir das gelingt – und auch sehr unglücklich, wenn nicht. Ob als Interpret bei Werken von Bach bis Schubert, von Beethoven bis Alban Berg – mir geht es um die eigenen Gefühle und Gedanken. Darum, eine radikale Energie zu entwickeln, für das, was man ausdrücken will. Klavier zu spielen mit Seele und mit Kopf. Komponieren ist für mich genauso eine ganz individuelle Ausdrucksweise. Ich bebildere die Gegenwart – Situationen, die ich erlebt habe, Städte oder Personen, die mir begegneten. Jedes meiner Werke hat eine ganz eigene Geschichte. Ich orientiere mich zwar manchmal an Formaten verschiedener Zeiten und Genres und schreibe »Sonaten« oder »Sinfonien«, der musikalische Ausdruck ist aber ein vollkommen eigener. Bezeichnungen sind nicht entscheidend. Ich schreibe Musik für Menschen oder über sie, quasi in meiner Erzählweise.
Sie führen diesen Sommer nicht nur groß besetzte Klavierkonzerte von Beethoven, Schumann oder Ravel auf, sondern spielen bei einem Soloabend in der Elbphilharmonie auch Bachs Goldberg-Variationen. Was verbindet Sie mit diesem Werk?
Während der Pandemie vor fünf Jahren hatte ich die Zeit, mich sehr intensiv – auch analytisch – mit den Goldberg-Variationen zu beschäftigen. Und ich konnte viele Verbindungen zu anderen Komponisten feststellen: Ich hatte vorher alle Mozart-Sonaten und alle Beethoven-Sonaten aufgenommen, ich habe in meinem Leben sehr viel Haydn, Schubert, Schumann oder Chopin gespielt. Von Bach sind alle diese Komponisten inspiriert. Was Bach in den 32 Variationen veranlagt hat, ist eine Revolution – nicht nur kompositorisch, auch klaviertechnisch. Es ist hohe Mathematik und von zeitloser Schönheit zugleich. Bach selbst überschrieb das Werk schlicht mit »Clavier Ubung«. Für mich ist es aber sehr expressiv, und jeden Tag kann man es anders spielen, jeden Tag spiegeln die Variationen für sich andere Dinge. Man kann die Perspektive ändern, die Tempi wechseln oder den Gestus – das funktioniert alles! Und das ist bei keinem anderen Komponisten der Fall. Ich habe die Goldberg-Variationen 2022 erstmals aufgenommen, und sie sind mir seitdem mehr und mehr ans Herz gewachsen. Denn an keinem anderen Stück spüre und bemerke ich die eigene Entwicklung so deutlich – nicht im Sinne von: Was wird besser, sondern von: Was wird anders.
Im Rahmen Ihres Porträts erklingen auch fünf groß angelegte Sinfonien sowie verschiedene Solokonzerte aus Ihrer Feder. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Kammermusik in ganz unterschiedlichen Besetzungen, wie etwa bei einem Projekt mit der Camerata Salzburg, wobei Werke von Mozart Kompositionen von Ihnen gegenübergestellt werden.
Die Camerata Salzburg ist eines der besten Kammerorchester weltweit. Wir spielen regelmäßig zusammen, und dass Mozart auf dem Programm steht, ist etwas sehr Natürliches, denn seine Werke gehören zum Kern sowohl des Repertoires der Camerata als auch von mir. Meine »Chamber Symphony« ist vielleicht das schwierigste Stück, was ich komponiert habe. Sie dauert nur ca. 25 Minuten, aber wir brauchen jedes Mal sechs bis sieben Proben, um das gut vorzubereiten. Mein Klavierkonzert »Silk Road« schrieb ich als 25-Jähriger. Ich hätte nie gedacht, dass es vier Jahre später einen Künstler wie Yo-Yo Ma zu seinem multikulturellen »Silk Road«-Projekt inspirieren sollte. Dieses Klavierkonzert habe ich 2011 auch schon beim SHMF gespielt – es schließt sich hier also ein kleiner Kreis.
Ein weiterer Höhepunkt ist sicherlich die Urauführung eines Mandolinenkonzertes, das Sie für Avi Avital komponiert haben. Wie kam es dazu?
Avi Avital ist ein genialer Künstler. Er kam vor etwa einem Jahr zu mir und sagte: »Fazıl, wir Mandolinisten spielen immer wieder Arrangements von Vivaldi oder Bach, aber es gibt kaum authentische Orchestermusik, die für Mandoline komponiert ist. Kannst Du nicht etwas schreiben?« Avi war dann zwei Tage lang mit seiner Familie bei mir zu Besuch in Istanbul, und wir haben sehr intensiv nachgedacht und daran gearbeitet. Danach tauschte ich mich zu jeder Minute, die ich komponierte, mit Avi über WhatsApp aus, ob das spielbar ist oder nicht. Manches gelang auf Anhieb, manches ging sehr häufg zwischen uns hin und her! Es war nicht so einfach, denn ich wollte ja ein schönes Werk mit einer gewissen Gültigkeit komponieren. Inhaltlich nimmt es den Nahen Osten in den Blick, wobei das schwer zu defnieren ist, denn nah-östlich ist vieles: Avi ist aus Israel, ich bin Türke. Natürlich gibt es eine große Menschlichkeit. Aber prägend sind ebenso große Probleme wie Kriege und Terror im gesamten Nahen Osten – wir erleben das jeden Tag sehr nah und intensiv. Dieses Drama wollen Avi und ich versuchen, gemeinsam zu verstehen und Perspektiven kombinieren, die gleichsam in einem Gegenwarts-Konzert münden.
Bei der Uraufführung wirkt außerdem das Schleswig-Holstein Festival Orchestra mit, mit dem Sie 2013 bereits zusammengespielt haben.
In der Tat! Ich freue mich sehr darüber, dass diese jungen Musiker aus über 30 Nationen nun nicht nur das Mandolinenkonzert aufführen – es gibt kaum einen passenderen Klangkörper dafür! – sondern auch meine Istanbul-Sinfonie. Und das in Kombination mit der großartigen jungen türkisch-italienischen Dirigentin Nil Venditti. Sie hat bei mir studiert, und ich halte sie für eine der besten der kommenden Generation. Das wird ein phantastischer, klangprächtiger Abend voller Rhythmik – und viel Spaß für alle Mitwirkenden!
Sehen Sie sich als Musiker zwischen den Welten, als Vermittler zwischen den Kulturen?
Vielleicht. Als ein Östlicher im Westen und ein Westlicher im Osten habe ich mein ganzes Leben so gelebt und versucht, Menschen durch Musik zu verbinden. Menschen sind für mich alle gleich – ob bei Konzerten in Tokio, New York, Hamburg, Ankara oder Peking, mit namhaften Musikerkollegen oder weniger namhaften. Menschen sind Menschen, und wenn wir »gute« Musik zu uns sprechen lassen, werden alle Schubladen überfüssig. Heutige Systeme – soziale, kulturelle und wirtschaftliche – agieren allerdings in Kategorien wie Westliche Klassik, Jazz, Pop oder ethnische Musik. In der Klassik-Branche selbst werden Schubladen gemacht, von den Medien, den Managements, den Veranstaltern. Aber Musik, die zu mir persönlich spricht, bleibt nicht an der Oberfäche, ist nicht industriell oder populistisch. Sie hat immer dieselbe Wirkung: Sie vertieft meine Seele, und die Seele versteht diese substantielle Tiefe ganz unmittelbar. Solche Musik, die mir in allen Genres begegnet, inspiriert mich.
Das Gespräch führte SHMF-Redakteur Tobias Klatt.