Fazıl Say: Space Jump op. 46
Menahem Pressler, der großartige Pianist und die jahrzehntelange Stütze wie Seele des »Beaux Arts Trio«, war der Kammermusiklehrer von Fazıl Say. Und er war 2013 Juror für Klaviertrio beim ARD Musikwettbewerb in München. 2012, zehn Tag vor der Deadline, fragte er Say, ob er nicht ein Pflichtstück für die Trio-Sektion komponieren wollte – etwa 10 Minuten lang, und es sollte natürlich alle Pflichten und Möglichkeiten einer solchen Formation exemplarisch vorführen wie ausloten. Und die 60 Trios, die angetreten waren, sollten es natürlich auch mögen, es nicht nur als lästige Pflicht begreifen.
»Ich habe zwar spontan ja gesagt«, erinnert sich Fazıl Say, »schon aus Verehrung für diesen wunderbaren Musiker heraus, aber ich hatte keinerlei Konzentration und Idee, was ich da machen wollte. Ich war echt unter Stress, was sonst gar nicht so der Fall ist.« Says 12-jährige Tochter, die damals bei ihm lebte, wollte unbedingt den Rekordsprung aus dem All von Felix Baumgartner im Fernsehen miterleben. Also saßen die beiden am 12. Oktober um Mitternacht vor dem Schirm, um mitzufiebern, wie Baumgartner in New Mexico aus 38.969,4 Meter mit seinem Stratosphärensprung den bis dahin höchsten Fallschirmstunt riskierte.
Fazıl Say war von diesem Ereignis als Zuschauer derart fasziniert, dass er sofort wusste: Das würde die emotionale Erfahrung sein, die er in seinem Trio verarbeiten wollte. Und der Titel »Space Jump« stand damit auch gleich schon mal fest. »Meine Tochter hat gemeint, ich solle doch was für Felix komponieren und ich fand die Idee gleich toll. Man sieht die Welt von oben, taumelt dahin, in rasender Geschwindigkeit und gleichzeitig, als ob man im Raum stehen würde. Und plötzlich fing Baumgartner mit unrhythmischen Bewegungen beim Fallen an, und dann war er für eine Minute aus dem Kameraobjektivwinkel verschwunden. Was für eine Spannung! Lebte er noch? Alles das wurde für mich zu Musik, auch als er sanft den Fallschirm öffnete.«
In den drei Sätzen – I Andantino meditativo – II Allegro maestoso – III Maestoso – wird diese Abfolge klanglich genau dargestellt und auch im Notentext beschrieben. Es ist eine sehr anschauliche Musik mit einem deutlichen Programm, erzählerisch abwechslungsreich, kompakt, mit virtuosen Momenten für jedes der drei Instrumente. Und die Klaviertrios, angefangen mit dem Trio Rafaele, das »Space Jump« im September 2013 beim Semifinale des ARD Wettbewerbs im Münchner Prinzregententheater uraufgeführt hat, haben das Werk von Anfang an gemocht.
Und weil ja so viele junge Trios es damals spielen »mussten«, haben sie es bis heute im Repertoire behalten. Fazıl Say ist richtig stolz, wie ein zunächst eher lästiges Gelegenheitswerk dann doch zu einer inspirierten Erfolgskomposition werden konnte. Denn fast jeder Hörer erinnert sich auch an Baumgartners Sprung und hat womöglich eigene Erinnerungen daran, die mit dem Stück verschmelzen oder kontrastieren.
Manuel Brug
Francis Poulenc: Sonate für Klarinette und Klavier
In Poulencs Schaffen nehmen Lieder eine Hauptrolle ein, außerdem geistliche Chorwerke und Opern. Auf dem Gebiet der Kammermusik fällt ein Übergewicht von Stücken für Bläser oder Blasinstrumente und Klavier auf, während es kein Streichquartett oder anderes reines Streicher-Werk gibt. In seinem letzten Lebensjahr 1962 entstanden noch zwei Sonaten, beide widmete Poulenc dem Andenken an zuvor verstorbene Kollegen. Die Oboensonate ist Prokofieff zugeeignet und die Klarinettensonate Arthur Honegger, dem zweitältesten der »Groupe des Six«. Sie wurde 1963 posthum von Benny Goodman und Leonard Bernstein in New York uraufgeführt.
Die Klarinettensonate besteht aus drei Sätzen, wobei der erste in sich dreiteilig ist – mit einem langsamen Mittelteil, der durch sein ganz eigenes Material wie ein selbständiger Satz wirkt. Die Abkehr von der deutschen Sonatentradition zeigt sich unter anderem daran, dass Poulenc seine Themen nicht zergliedert und im Dialog zwischen den Stimmen verarbeitet, sondern als Melodie bestehen lässt und die Begleitung auf ein formelhaftes Gerüst beschränkt. Die Harmonik enthält Wendungen, die stark an Prokofieff erinnern, so dass der Verdacht besteht, dass die Widmungen der beiden Sonaten vertauscht wurden. Dafür spräche auch, dass im gesamten Mittelteil des ersten Satzes sehr deutlich Prokofieffs Ballettmusik zu »Romeo und Julia« anklingt.
Peter Sarkar
Fazıl Say: Suite für Altsaxophon und Klavier op. 55
Nobuya Sugawa ist ein »legendärer« (Fazıl Say) japanischer Saxophonist, der in Tokio lebt und dort kultisch wie ein Popstar verehrt wird. Er kontaktierte 2014 den Komponisten und bat ihn ganz aus eigenem Antrieb, ohne einen Orchesterpartner, um ein Stück. Say ist zwar mit dem Saxophon als Jazzinstrument ein wenig vertraut, aber mit seinem Einsatz in klassischen Werken hatte er bis dahin wenig Erfahrung. Herausforderungen sind jedoch dafür da, gemeistert zu werden, außerdem fand er die Idee durchaus reizvoll. »Ich erweitere gern meinen Horizont mit Instrumenten, mit denen ich noch wenig oder gar nicht zu tun hatte«, so Say. »Umso wichtiger ist dann aber natürlich der Austausch mit den jeweiligen Interpreten, den ich allerdings immer als sehr bereichernd empfunden habe. «
Die so entstandene, etwa 14-minütige Suite für Altsaxophon und Klavier besteht aus sechs kurzen, aber virtuosen Sätzen mit den Bezeichnungen I Allegro – II Andante – III Presto – IV »Ironic« – V Andantino, quasi lullaby – VI Finale. Presto. Auch wenn diese Titel eher traditionell klingen: Fazıl Say hat sich auch in dieser Musik für den Solisten eines fernen Kulturkreises von der türkischen Musik, von ihren Rhythmen, Tänzen, ihrer Folklore inspirieren lassen.
Das Stück ist von modalem und manchmal atonalem Charakter. Es schlägt trotzdem ungezwungen eine Brücke vom Orient nach Ostasien als einem der Betriebszentren klassisch europäischer Musik. Seine Stimmung ist melodisch und sanft, mäandert in saxophontypischen Schleifen dahin, hat bisweilen auch meditativ-minimalistischen Charakter. Beide Spieler sind fast gleichwertig eingebunden, jeder Part hat dabei einen quasi-improvisatorischen, sich langsam vorantastenden Duktus.
Fazıl Say ließ es sich zudem nicht nehmen, bei der Uraufführung in Tokio selbst am Klavier zu sitzen, so sehr hatte er sich mit diesem Werk identifiziert. Doch von Anfang an war klar, dass nach einer ersten Tournee der Klavierpart sowie eine Aufnahme von Sugawas Frau übernommen werden, mit der Say ebenfalls im Austausch war. Er hat es seither nicht mehr gespielt. »Doch es ist ganz skurril«, führt er aus, »ob ich in Mailand oder Toronto auftrete, in fast jeder Stadt kommen hinterher Saxophonisten backstage, um mir Aufnahmen oder Konzertbroschüren zum Unterschreiben zu geben, die dokumentieren, wie populär dieses Werk inzwischen für dieses Instrument geworden ist. Ich hätte nie damit gerechnet, einen Hit zu produzieren, wenn auch in einer Nische. Hunderte Spieler haben das inzwischen im Programm, fast jeden Tag ploppen bei mir ein oder zwei Instagram-Mitteilungen auf, wo einer der Sätze gespielt wird.«
Es war auch Says Vorschlag, die Suite mit der aufsteigenden Saxophonistinnen-Entdeckung Asya Fateyeva selbst noch einmal beim Schleswig-Holstein Musik Festival aufzuführen: »Ich wollte jetzt einer jungen, dort bereits bekannten Interpretin die Chance geben und mich selbst nach 11 Jahren noch einmal mit dem Werk beschäftigen.«
Manuel Brug
Wolfgang Amadeus Mozart: Divertimento F-Dur KV 138
Virtuos und melodisch dankbar geben sich Mozarts drei Divertimenti KV 136 bis 138, die 1772 in Salzburg entstanden. In ihrer dreisätzigen Anlage verweisen diese Jugendwerke auf die damals beliebte italienische Opernsinfonia, die das Vorbild für die spätere Konzertsinfonie wurde. Deshalb sind die Stücke auch unter dem Namen »Salzburger Sinfonien« bekannt. Die ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung »Quartett-Divertimenti« für diese Gruppe verweist auf die kleinere Besetzung dieser Werke, die in der Partitur für Streichquartett notiert sind. Auch zahlreiche frühe Streichquartette Haydns sind mit »Divertimenti« bezeichnet, so dass ein Bezug auf das ältere Vorbild durchaus denkbar ist. In seiner Salzburger Zeit waren diese Werke für Mozart die einzige Gelegenheit, Kammermusik für Streicher zu schreiben. Man kann diese Stücke demnach als Vorläufer zu späteren Sinfonien wie zu den Streichquartetten betrachten. Offene Besetzungen waren in dieser Zeit üblich, die Werke wurden an die Gegebenheiten des jeweiligen Ortes und damit an die verfügbaren Musiker angepasst. Das Divertimento F-Dur KV 138 schließt die kleine Serie ab. Es ist das sinfonischste Werk im Zyklus und wartet mit einem überaus stürmischen Schlussrondo auf.
Matthias Corvin
Fazıl Say: Streichquartett op. 29
Ein einziges klassisches Quartett hat Fazıl Say bisher nur geschrieben. Das war 2010. Und das hat ausgerechnet den Untertitel »Divorce«. Und »Scheidung« ist erst einmal durchaus konkret biographisch gemeint. »Meine Eltern haben sich scheiden lassen als ich fünf Jahre alt war«, erläutert Say. »Das war damals in der Türkei der Siebzigerjahre gänzlich ungewöhnlich, und es hat mich sehr viel mehr geprägt, als ich es eigentlich dachte. Heute würde man sagen, es hat mich traumatisiert. In der Klasse war ich das einzige Kind mit geschiedenen Eltern, da hatte ich sofort einen Minderwertigkeitskomplex weg, und diese Gefühle waren stark. Auch ich wurde von meiner ersten Frau geschieden, als meine Tochter vier Jahre alt war. Und wieder habe ich Traumata erlebt. Komischerweise fand ich dann in der scheinbaren Balance des Streichquartetts die Möglichkeit, diese emotionalen Zustände, die mich mein ganzes Leben beschäftigt haben, künstlerisch zu hinterfragen. Natürlich musste ich auch darüber nachdenken, dass sich in manchen Streichquartetten die Mitglieder spinnefeind sind, auf Tour in anderen Hotels wohnen und nicht wenige berühmte Formationen irgendwann ›geschieden‹ wurden. Es ist also ein mehrdeutiges Minenfeld, auf das ich mich hier begeben habe. Und auch meine zweite Ehe hat leider nicht gehalten. Aber ein zweites Scheidungsquartett wird es deshalb nicht geben.«
Vielleicht ist es hier ähnlich wie im Fall von Leoš Janáčeks Quartett Nr. 2 »Intime Briefe«: Streichquartettformationen fühlen sich zum Quartett »Divorce« hingezogen, weil es einen dramatischen Vorwurf hat, weil es etwas nicht abstrakt, sondern plastisch ausformuliert, mit dem man sich identifizieren kann, das interessiert, ja berührt. Uraufgeführt wurde das kompakte, knappe, etwa 16-minütige Werk mit den drei Sätzen Allegro maestoso, Andante und Presto als Auftragskomposition des Konzerthaus Dortmund sinnhafterweise nicht von einer eingespielten Quartett-Formation, sondern von vier äußerst eigenwilligen, aber Kammermusik-versierten Solisten – nämlich den Geigerinnen Patricia Kopatchinskaja und Priya Mitchell, Vladimir Mendelssohn an der Bratsche und dem Cellisten Thomas Demenga.
Und gerade diese sehr individuellen Künstler haben Fazıl Say dazu gebracht, sich vehement von seiner eigenen Persönlichkeit und seinen Erfahrungen leiten zu lassen. So hat er also versucht, Erlebnisse wie Scheidung, Trennung und das Scheitern einer Beziehung in der Sprache der Musik anhand von Tönen und Rhythmen zu erzählen. Wie in seinen anderen Kompositionen ist aber auch dieses Quartett mehr ein Werk seiner Intuition als die Beschreibung einer historischen Begebenheit, einer Reise oder eines Ortes.
Say selbst beschreibt das Werk so: »Der erste Satz beginnt recht wild, schnell, traurig, in einem irregulären Rhythmus. Zwischenzeitlich kommen auch Abschnitte vor, die an Jazz Clubs erinnern. Die gelebte Geschichte ist unsere Gegenwart, die wir erleben. Der zweite Satz, der melancholisch ist, wird von Farben, dem Thema der Suche, der Suche nach einem Ausweg und der Traurigkeit beherrscht. Der letzte Satz möchte dagegen die Abscheulichkeiten, Streitigkeiten und Auseinandersetzungen einer Beziehung wiedergeben, die sich zu einem regelrechten Trauma verwandelt hat.«
Mit dem Goldmund Quartett verbindet Fazıl Say eine regelmäßige Partnerschaft. Es hat dieses Werk inzwischen auch eingespielt, und ja, ein zweites Quartett ist für diese vier in Arbeit – 2026 soll es erstmals zu hören sein. »Denn jeder Komponist sollte in diesem besonders lohnenden wie herausfordernden Genre mehrmals tätig werden«, findet er.
Manuel Brug
Robert Schumann: Klavierquintett Es-Dur op. 44
Unmittelbar nach den drei Quartetten, in denen Schumann die »Enge« des Klaviers verlassen und das Zusammenspiel von vier Streichinstrumenten ausgelotet hat, wagt er sich daran, beide wieder zusammenzuführen. Mit dem Klavierquintett op. 44 erreicht er hierbei nahezu sinfonische Dimensionen und schafft ein Referenzwerk für die Gattung, an dem sich später nicht nur Brahms, sondern auch César Franck und Gabriel Fauré orientieren sollten. Schumann befindet sich wie im Rausch – anhand des Haushaltsbuchs kann man die rasenden Fortschritte verfolgen: am 23. September 1842 »Anflug zu einem Quintett«, am 24. bereits »Erster Satz des Quintetts fertig«, am 25. und 26. »fleißig« weiter, am 27. »Sehr fleißig und glücklich am Quintett« und am 28. dann schon »Ziemlich fertig mit dem Quintett«. Nur sechs Tage braucht er für die Skizzen, am 5. Oktober beginnt er mit der Niederschrift – »Angefangen am Quintett zu schreiben« – und ist am 12. Oktober bereits fertig – »Mein Quintett fertig aufgeschrieben«. Roberts Frau Clara folgt dem Kompositionsprozess lauschend und hört »ein Werk voll Kraft und Frische! – Ich hoffe sehr, es diesen Winter noch öffentlich hier zu spielen.« Ende November wird es geprobt – »ein herrliches Werk (...), dabei äußerst brillant und effektvoll«. Doch dann erkrankt Clara Schumann, und Mendelssohn übernimmt den Klavierpart bei der privaten Erstaufführung am 6. Dezember. Er rät Schumann zu einigen Änderungen im zweiten Trio des 3. Satzes, die dieser auch ausführt. Bei der Uraufführung am 8. Januar 1843 im Leipziger Gewandhaus sitzt Clara Schumann dann wieder selbst am Klavier, die erste Geige spielt erneut Ferdinand David. Im September ist das Quintett dann auch gedruckt und darf wieder einmal den Gabentisch zu Clara Schumanns Geburtstag bereichern. Gut 20 Jahre später, am 13. September 1854, ist es dann Brahms, der ihr eine vierhändige Klavierfassung desselben Quintetts zum Geburtstag schenkt – es war ein lang gehegter Wunsch.
Brillant und feurig beginnt der erste Satz mit einem energischen Thema, welches aber bald ins Lyrische schwenkt. Diese kontrastreiche Gestaltung im Wechsel von zurückhaltenden und triumphalen Passagen verleiht dem Satz seinen besonderen Reiz. Ein düsterer, zögerlicher Trauermarsch steht an zweiter Stelle, der sich vorsichtig vorantastet. In seinem Mittelteil verbreitet eine idyllische Violinpassage Zuversicht, bis das Trauermarschthema in dunklere Gefilde zurückführt. Das Scherzo jagt mit wilden Skalen auf und ab, Klavier und Streicher scheinen sich gegenseitig übertreffen zu wollen. Das erste Trio bildet einen freundlichen Gegenpol mit einem kantablen Kanon von Violine und Cello, in den die wilde Jagd unvermittelt wieder hereinbricht. Das zweite Trio dagegen bleibt im selben Duktus und treibt als rasendes Perpetuum mobile durch alle Tonarten. So hat das Scherzo insgesamt einen erregten, nervösen Charakter. Es mündet fast unmittelbar in den energischen letzten Satz, der inhaltlich an den ersten Satz anschließt. Drei Themen werden durchgeführt und in einem großen Doppelfugato kontrapunktisch gegeneinandergesetzt. Triumphal endet der Satz in einer großen Steigerung – ein Höhepunkt in Schumanns Kammermusik. In der Mischung von dichtem Klaviersatz und sattem Streicherklang nimmt das Quintett stellenweise orchestrale Züge an. Zugleich bleibt es jedoch klar strukturiert und in seinen Themen gut fasslich und eingängig.
Eva Gruhn